Zugdrachen statt Segel; Verbesserte Aerodynamik und Sicherheit machen Kitesurfen wie
Kitesegeln zum beliebten Trendsport
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17 April 2007
Neue Zürcher Zeitung
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Wer vom Frühsommer bis im Spätherbst über den Julierpass nach Süden fährt, kann häufig das
Spektakel der Kite-Boarder auf dem Silvaplanersee beobachten. Denn in der Schweiz konzentrieren
sich die Aktivitäten im Kitesurfen und Kitesegeln im Oberengadin. Nur dort herrscht mit dem
Malojawind jene einigermassen zuverlässige Brise vor, die für diesen Sport eine wichtige
Voraussetzung bildet. Freilich ist dies nicht der Grund, weshalb Kitesegeln erst vor einigen Jahren eine
grössere Verbreitung fand. Vielmehr trug die aerodynamische Entwicklung der Schirme für das
Gleitschirmfliegen dazu bei, die zu Sailing-Kites (wörtlich Segeldrachen) adaptiert wurden. Und auch
die Fortschritte bezüglich Sicherheit waren von Bedeutung.
Verbesserte Sicherheitssysteme
Noch vor zehn Jahren gab es weltweit nur ein paar Dutzend Kitesurfer. Mittlerweile werden schon über
200000 gezählt. In der Schweiz existieren vier Kitesurfing-Zentren, die von der International
Kiteboarding Organization (IKO) anerkannt sind. Das älteste und einzige Zentrum, das die sportlichen
Aktivitäten erst noch fast vor der Haustür ausüben kann, ist Swiss Kitesailing Silvaplana. Im Winter
werden hier Lektionen im Snowkiting auf Ski oder Snowboard angeboten und im Sommer Kurse im
Kitesurfen auf dem Wasser des Silvaplanersees. Die drei anderen Zentren halten ihre Schulungskurse
vorwiegend im Ausland ab, meist an der französischen Atlantikküste und im Mittelmeer. Das macht eine
entsprechende Logistik erforderlich. Allen vier Zentren ist gemeinsam, dass das Angebot vor allem in
den letzten vier Jahren von Interessenten verstärkt nachgefragt wurde. Der gängigen Entwicklung einer
Trendsportart entsprechend, hat sich auch im Kitesegeln der Ausrüstungsstandard dauernd verbessert.
So wurden schwimmfähige Schirme mit aufblasbarer Frontkante entwickelt, die es erlauben, vom
Wasser aus zu starten.
Und als in den neunziger Jahren verschiedene Unfälle mit tödlichen Folgen zu beklagen waren, wurden
letztlich auch die Sicherheitssysteme stark verbessert. Sie bestehen heutzutage aus einem
schwimmfähigen Geschirr, das mit einem einzigen Handgriff von den Leinen des Schirms getrennt
werden kann - selbst dann, wenn diese unter starkem Zug stehen. Überdies gehört zur Kitesurfingund
Snowkiting-Ausrüstung ein Schutzhelm. Wohl die einzige Segelsportart, die solches erfordert.
Geschwindigkeitsrekord nicht in Gefahr
Schon 1987 führte der Amerikaner Dave Culp, ein Pionier in Sachen Kitesegeln, an der Speed Week in
Weymouth an der englischen Südküste ein Proa genanntes Auslegerboot vor, das mit einem Stapel von
fünf übereinander angeordneten Kitesegeln bestückt war. Damals wurde jedoch, wie auch später, nie
ein absoluter Geschwindigkeitsrekord im Segeln erreicht. Zwar stellt sich auch im Kitesegeln bei
raumem Wind (von der Seite her blasend) das Phänomen des scheinbaren Windes ein. Dadurch kann
schneller als der sogenannt wahre Wind (Windgeschwindigkeit gemessen gegenüber dem Boden)
gesegelt werden. Doch weil sich ein Kitesegel nur bis zu 90 Grad zum Wind führen lässt, ist das auch
noch bis zu etwa 70 Grad im Gegenwind wirksame konventionelle Segel in Sachen
Geschwindigkeitspotenzial überlegen. Anderseits lassen sich mit Drachenschirmen ausserordentlich
spektakuläre und enorm weite Sprünge mit Schraubendrehungen und Saltos ausführen, weil sich die
Zugkraft von Kitesegeln auch von der Wasseroberfläche weg als Auftrieb nutzen lässt.
In der offiziellen Rekordliste des World Sailing Speed Record Council der International Sailing
Federation sind Rekorde im Kitesegeln über die klassischen Distanzen von 500m und einer Seemeile
aufgeführt. Den absoluten Geschwindigkeitsrekord im Kitesegeln erzielte vor einem Jahr Olaf Marting
in seiner Heimat Namibia mit 41,79 Knoten (77,49 km/h) im bekannten Surfrevier der Walfish Bay. Der
Rekord in der Frauen-Kategorie wurde ebenfalls vor einem Jahr am gleichen Ort durch die Französin
Aurelia Herpin mit 35,20 Knoten (65,19 km/h) erzielt.
Alternativer Antrieb für Frachtschiffe
Zurzeit macht in Fachkreisen allerdings eine ganz andere Anwendung von Kitesegeln Schlagzeilen. Es
geht um die Verwendung von Kitesegeln für den Antrieb von kommerziellen Schiffen, Jachten,
Frachtschiffen und Tankern. Das ist keineswegs so utopisch, wie es tönen mag. Allerdings wird die
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Windkraft dabei nur als sekundärer Antrieb betrachtet, zur Unterstützung und Entlastung des
Schraubenantriebs bei günstigen Windbedingungen. Immerhin: Damit sollen sich beim
Treibstoffverbrauch Ersparnisse von 10 bis 35 Prozent erzielen lassen. Zwei Firmen sind führend in
diesem Bereich: die von Dave Culp in den USA gegründete Kiteship Corporation und die Skysails
GmbH des Erfinders Stefan Wrage aus Hamburg. Kiteship hat schon Kitesegel mit bis zu 280m2
geflogen sowie eine Kreuzfahrtschiff mit einem Zugsegel ausgerüstet, und sie konnte sich sogar
Entwicklungsaufträge der US-Navy sichern. Neue Materialien, sowohl für die Konstruktion der Schirme
als auch der Zugleinen, vor allem Kunststoff-Verbundwerkstoffe wie Karbonfasergewebe und
Kevlargewebe, machen die Realisation solcher Projekte jetzt möglich. Skysails jedenfalls hat auf einem
600 Tonnen schweren Schiff einen 160m2 grossen Zugdrachen in der Nord- und der Ostsee erfolgreich
erprobt.
Gregor Henger